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30. März 2001


Der Wahnwitz atomarer Kriegsspiele

Von Michael Klarmann


Der Fotograf Andreas Magdanz über eine in Stein gehauene Monstrosität

Die Idylle im Ahrtal zwischen Ahrweiler und Dernau, 25 Kilometer südlich der alten Bundeshauptstadt Bonn gelegen, war trügerisch. Unter dem Decknamen "Dienststelle Marienthal" befand sich hier mitten im Schiefergestein der "Ausweichsitz der Verfassungsorgane des Bundes". Die unterirdische Bunkeranlage sollte der Bundesregierung im Fall eines atomaren Angriffs Schutz bieten. Der Sinn des Stollensystems war hochtrabend wie profan: Regierungsgeschäfte und die Verteidigung des Nato-Areals sollten fortgeführt werden.

Der weltweit größte bislang bekannt gewordene Bunkerkomplex wurde seit 1972 betrieben, aber schon seit dem ersten Weltkrieg diente ein Stollen im Berg militärischen Interessen. Alles war bis 1997 als top secret eingestuft, sogar Handwerker, die im Inneren der Weinberge ihren Dienst taten, waren verbeamtet und unterlagen der Schweigepflicht. Bereiche der Anlage waren trotzdem noch Sperrgebiet, so dass mancher sie nach 30 Dienstjahren gerade einmal vom Hörensagen her kannte. Als Andreas Magdanz erstmals von dem Atomschutzbunker erfuhr, beschloss er, das Unglaubliche glaubhaft festhalten zu wollen. Der 1963 in Mönchengladbach geboren Fotokünstler begann seine Reise durch das Labyrinth unter Tage.

"In den begehbaren Lüftungsschächte hat man wirklich das Gefühl, man ist in einem Organismus. Man spürt auch den Berg sehr stark. Das Innere von Marienthal weckt ganz unterschiedliche Assoziationen. Tunnelgewölbe, Fluchtwege mit gotischem Charakter oder andere Räume, die einen meditativen Charakter aufweisen. Man geht durch ein Wechselbad der Gefühle. Alles hängt von dem technischen Bestimmungszweck ab, wohl das einzige, was maßgebend ist bei der Anlage. Marienthal wurde nicht von einem Architekten geplant, sondern von Ingenieuren. Und diese konzeptionelle Klarheit, die hat mich immer fasziniert."

Im Kriegsfall sollten 3.000 Personen rund 30 Tage von der verstrahlten Umwelt hermetisch abgeriegelt in der unterirdischen Festung überleben können. Danach, so das Planspiel, waren die Reserven aufgebraucht. Offiziell geplant wurde nicht, was dann mit den Menschen passieren sollte. Das Krisenszenario völlig ad absurdum führte Bernhard Moltmann in einem Beitrag für die Zeitschrift "Standpunkte": Schon bei der Fertigstellung "war die Realität über die Planungen dieses Bauwerkes hinweg gegangen, denn inzwischen sah man vor, im Kriegsfalle die Bundesregierung nach Florida auszufliegen," stellte er in einem Theorieaufsatz zum "Atomzeitalter" für die "Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Frankfurt" fest.


Am Reißbrett des atomaren Ernstfalls


Die Inneneinrichtung des Bunkers beschrieb die "Oberfinanzdirektion Koblenz" als "sehr spartanisch." Christian Litz fiel ein drastischerer Vergleich ein: "Alle Räume wirken wie in einer Asylbewerberbaracke." Die Räume und deren Möblierung, so die Oberfinanzdirektion weiter, "sind schlicht und nüchtern. So standen beispielsweise selbst für die höchsten Repräsentanten des Staates nur Feldbetten zur Verfügung. Am ehesten trifft der Vergleich mit einer großen, unterirdischen Kaserne zu" - wozu das Stollensystem auch mutiert wäre, falls im "Militärischen Lagezentrum" das Realität geworden wäre, was alle zwei Jahre bei Nato-Übungen geprobt wurde. Magnettäfelchen kennzeichneten auf immensen Weltkarten Truppenbewegungen, Verluste oder angreifende Bomberverbände.


"Man steht in den Kartensälen und merkt, da ist ein Szenario gespielt worden, das die ganze Erde einbezieht. So pubertär das wirkt - ich habe erst an ein riesiges Männerspielzeug gedacht -, die Ernsthaftigkeit dahinter haut einen um. Man weiß, es sind Visionen verplant worden, die apokalyptischer nicht sein konnten. Ich habe Fotos vom ehemalige Verteidigungsminister Rupert Scholz in der Anlage gefunden, aber er streitet ab, je dagewesen zu sein. Von Mitarbeitern der Anlage habe ich gehört, dass auch Schmidt hier war. Er hat mir auf einen Brief geantwortet, er könne sich nicht erinnern, jemals dagewesen zu sein - der Name sage ihm nichts, er könne sich nicht erinnern und er glaube, nie dort gewesen zu sein. Weder ein klares Ja, noch ein Nein. Das zeigt, Politiker können nicht zu gewissen Dingen stehen und sie fürchten die Kritik deswegen so sehr, dass sie dieser aus dem Weg gehen. Ich glaube, hinsichtlich der durchgespielten Szenarien, hinsichtlich der Demokratiefeindlichkeit, dass in Marienthal noch viele Dinge begraben liegen, die Politiker dazu bringen, zu leugnen, dort gewesen zu sein."

Gegen das Vergessenwollen setzt Andreas Magdanz die Kunst: ein beeindruckender Bildband, eine Ausstellung, Filmaufnahmen und die von ihm gestaltete Homepage. Damit ist ihm eine eindrucksvolle Dokumentation gelungen, die verdeutlicht, wie weit sich die Unästhetik von Beton, die tristen, düsteren Verbindungsgänge oder Lüftungsschächte und das kitschige Design der 70er-Jahre - etwa die knallroten Sessel und gelben Lampenschirme im "Präsidialamt" - einander annäherten. Kafkaeskes Unwohlsein und Popart finden so eine Einheit, die fast an den Trashfaktor der Science Fiction-Serie "Raumpatrouille Orion" erinnert. Die futuristische Kaffeemaschine etwa, nur im Bildband dokumentiert, scheint geradezu den Requisiten jener TV-Serien entnommen. Klischeehafte wie manchmal unfreiwillig komisch wirkende Filme über den Kalten Krieg entlarven sich so, denn für Magdanz "übertrifft die Wirklichkeit die Klischees." Die Autobahn, über die man Marienthal erreicht, kann "in Minuten umgerüstet werden zur Start- und Landebahn für Düsenflugzeuge. Da wird nur die Mittelleitplanke heraus genommen und dann ist das eine Betonfläche." Das erste Glasfaserkabel Deutschlands wurde in den Bunker verlegt.


Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft


Glaubt man Insidern, kam es bei den Übungen, an denen zwar höhere Beamte, aber wohl nie ein Bundeskanzler teilgenommen haben, auch zu Ausfallerscheinungen: "Doch das technische Wunderwerk hat auch Wunden in Seelen geschlagen, vor allem bei denen, die die jeweils fälligen drei Tage absoluter Abschottung unter Ernstfallbedingungen bewusst erlebt haben," schrieb Wilfried Lindner in den Aachener Nachrichten, im ausgewählten Pressespiegel der Homepage einsehbar.

Thomas Schüsslin merkte eher hämisch an: "Nicht selten kam es unter den Eingepferchten zu Nervenzusammenbrüchen und depressiven Phasen." Und vielleicht gibt es noch viel mehr zu Verdrängen als seelische Narben. "Der Chef vom Werknotdienst hat mir erzählt," so Magdanz, "dass der erste Sicherheitschef Marienthals Oberst Priebke gewesen sein soll. Priebke ist 1998 in Rom verurteilt worden, wegen den Massakern in den Ardeatinischen Höhlen. Priebke war damit beauftragt, die Leute, die am Bau beteiligt waren, auf ihren politischen Hintergrund hin abzuklopfen." Der ehemalige SS-Hauptsturmführer Erich Priebke hatte 1944 nach einem Attentat italienischer Partisanen auf die Besatzer 335 Zivilisten als Geiseln nehmen lassen und deren Hinrichtung, angeblich aus Gründen der Abschreckung, befohlen.

"Im Bezug auf Marienthal werfe ich der Politik vor, dass Historie zerstört wird. Das Ding steht und repräsentiert in unglaublicher Art und Weise den technischen und intellektuellen Standart einer bestimmten Zeit. Zwölf Jahre haben tausende Menschen daran gebaut und es ist einfach unglaublich, dass nun alles so mir nichts, dir nichts zerstört wird. Weder ein Museum, noch eine Denkmalbehörde hatten Interesse daran, die Räume zu erhalten oder die Einrichtungen wieder an anderer Stelle aufzubauen. Nirgendwo könnte man Dinge so auf den Punkt bringen und zeigen, wie in Marienthal. Der ehemalige Kultusminister Naumann hat mir trotzdem geschrieben, dass das Ding nicht von bundespolitischer Bedeutung ist."

Die Suche nach einem Käufer für die ungewöhnliche Altlast des geteilten Deutschland blieb erfolglos. Keiner der Interessenten - gedacht wurde auch an eine Techno-Disko, eine Erlebniswelt oder ein Betrieb zur Championzucht - wollte den Kaufpreis und die zusätzlichen 80 Millionen Mark aufbringen, die der Umbau der Anlage zwecks ziviler Nutzung gekostet hätte.

Das zu Bauzeiten etwa 3 Milliarden Mark teure Stollensystem soll nun wieder an die Natur "aufgeben" werden. Zuvor gilt es noch, letzte Einrichtungsgegenstände, die 25.000 Türen, 580 Kilometer Kabel und 480.000 Quadratmeter Wandfarbe zu entfernen. Denn, so die Behörden, sollte bei Stillegung das Gebirgswasser in die Stollen eintreten, so würde es deren Giftstoffe auswaschen und in das Grundwasser spülen. Der "Rückbau" wird etwa 60 Millionen Mark kosten. Für Magdanz ein abermals "überzogener Perfektionismus" - und wie der Neubau eine "unglaubliche Verschwendung von Steuergeldern".